Geschichte

Lebendige Vielfalt

 

Carussello siciliano

Dieser Kreuzungs- und Kristallisationspunkt von Rassen, Sprachen, Religionen, Mentalitäten, historischen und künstlerischen Reichtümern ist ein großes und dicht beschriebenes Palimpsest, ein mehrfach überschriebenes Pergament, eine verwirrende Ansammlung von Über- und Nebeneinander, der faszinierende Ausdruck verschiedenster, sich nicht allein feindlich gegenüberstehender, sondern auch gegenseitig befruchtender Lebens- und Denkweisen.

 

Vom frischen Wind aus der Wüste erneuert

Im Mittelalter kam es dann zu einer zweiten, der Blüte des maurischen Spanien vergleichbaren „Wiedergeburt“, die sich der erfolgreichen Zusammenarbeit von Muslimen, Juden und Christen verdankte. Damals bildete die Insel so etwas wie das vergessene Glied zwischen der versunkenen griechischen Kultur, deren byzantinischem Nachfolger, der arabischen Welt und dem alten Europa. Hier war der >Nabel der Welt<, an dem sich die großen Religionen und die Mächte der mittelalterlichen Welt trafen und für einige glanzvolle Jahre ihren Zwist begruben, um großartige Werke wie den Dom von Monreale zu schaffen.
Wenn sich das pragmatisch-tolerante normannische Königreich länger gehalten hätte, dann wäre aus dem Prozess der kulturellen Verbindung vielleicht eine Zivilisation erwachsen, die so reich und nachhaltig wie die von „Al-Andalus“ gewesen wäre … Und daran knüpft sich die universelle Frage: Wird ein solch zwangfreier Zusammenschluss der Verschiedenen noch einmal gelingen, kann im „Chaos der Differenzen“ eine Dynamik der Übereinkunft zur Verwirklichung gemeinsamer Interessen gefunden und realisiert werden?

 

Die sich beständig selbst korrigierende Lesart

Nicht nur die wunderschöne, aber auch chaotische Hauptstadt Palermo, diese „Schatzkammer der Phantasien“ (Guido Piovene), die ganze Insel ist eine “cipolla“. Wirft man einem nicht nur oberflächlichen Blick auf diese „Zwiebel“, dann ergeben sich Schichten und Häutungen, die das Erbe byzantinischer, maghrebinisch-arabischer und vieler anderer Einflüsse freilegen – ob es sich nun um Architektur, Musik, Küche oder das gesprochene Wort handelt. So beeindruckt etwa die immer noch aufbrausende Vielstimmigkeit von „La Vucciria“, dem legendären Altstadtmarkt und „Bauch“ von Palermo. Schon der Name, der sich vom französischen Wort „boucherie“ ableiten soll, deutet auf eine „confusione“ hin. Der theatralische Lärm und das Durcheinander zwischen den „bancarelle“ wurde dank der poetischen Transformation des Künstlers Renato Gattuso zum Sinnbild der Stadt, ja der ganzen Insel. In diesem „Universum in Kleinformat“, diesem Feuerwerk ebenso authentischen wie ambivalenten Lebensgefühls, gibt es alles: Kneipen, Kaschemmen, Kuriere, Kurtisanen, Komödianten, Kontrahenten, Kirchen, Konflikte, Kunst, Kitsch und Kriminalität.

 

Eindrücke von Sizilien